Verloren im Pixelnirwana: Mein Selbstversuch in Minecraft
von Clara Kern, Technik- und Überlebenskorrespondentin

Bayern. Es sollte ein Selbstversuch werden. Ein Schritt in die virtuelle Gegenwart, ein Blick in die Lebensrealität von Millionen Menschen weltweit. „Teste Minecraft“, sagte mein Redakteur. „Es ist ein Spiel. Für Kinder. Du wirst das überleben.“ Fünf Stunden später saß ich in einem Erdloch, umgeben von Kuhlauten, mit einem Holzschwert in der Hand und einer tiefen existenziellen Leere im Herzen.
Minecraft – ein Open-World-Sandboxspiel. Blockige Welten, grenzenlose Freiheit, und laut Wikipedia eine Plattform für Kreativität. Für mich: eine visuelle Ohrfeige aus Pixeln und unverständlichen Handbewegungen. Ich bin 37, habe einen Hochschulabschluss, und trotzdem habe ich eine ganze Stunde gebraucht, um einen Baum zu fällen.
Der erste Tag: Ich gegen das Holz
Das Spiel beginnt ohne Einführung. Keine Stimme, keine Hinweise, kein Willkommensschild. Nur: Wald. Himmel. Und eine Figur, die offenbar ich bin. Ich drücke Tasten, renne im Kreis, schlage versehentlich eine Kuh. Sie schaut mich vorwurfsvoll an und läuft davon. Ich entschuldige mich laut – niemand hört es.
Ich versuche, Holz zu sammeln. Angeblich der erste Schritt zur Zivilisation. Aber meine Figur hat nur Fäuste. Fäuste! Nach 17 Minuten habe ich drei Holzblöcke und das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Ich öffne das Inventar. Es sieht aus wie die Steuerzentrale eines Raumschiffs, das von Grundschülern gebaut wurde. Ich schließe es wieder.
Die Nacht: Terror in acht Bit
„Baue dir schnell ein Haus, bevor es dunkel wird“, hatte mir ein Neffe geraten. Ich lache noch über die Idee – bis es dunkel wird. Plötzlich: Augen im Dunkeln. Geräusche. Etwas zischt. Ich sterbe. Einfach so. Keine Warnung, keine Versicherung, keine emotionale Vorbereitung. Ich respawne. Sterbe wieder. Und wieder.
Am Ende buddle ich mich panisch in ein Loch im Boden und schließe es mit Erde. Ich sitze in völliger Dunkelheit, höre seltsame Geräusche und frage mich, ob dies die digitale Version eines Burnouts ist.
Tag zwei: Fortschritt, wenn man ihn ignoriert
Am nächsten Morgen baue ich eine Werkbank. Ich bin stolz. Dann verliere ich sie aus Versehen im Fluss. Ich versuche, ein Schaf zu melken, bis mir Google sagt, dass das nicht geht. Ich versuche, Brot zu backen, habe aber kein Getreide. Ich versuche, einen Ofen zu bauen – aber die Steine, die ich mühsam mit der Hand gesammelt habe, sind „nicht geeignet“. Was ist ein geeigneter Stein? Hat er sich beworben?
Ich frage mich, wie viele Kinder täglich in dieser Welt überleben. Wahrscheinlich Millionen. Ich hingegen bin wieder in meinem Erdloch und esse roh geklickte Karotten, weil ich nichts anderes finde.
Faszination des Scheiterns
Und doch verstehe ich den Reiz. Irgendwann gelingt mir ein kleiner Garten. Ich pflanze etwas. Es wächst. Ein Huhn schaut zu. Ich empfinde Stolz. Sekunden später tritt ein Creeper in mein Gemüsebeet und sprengt alles in die Luft. Ich schließe das Spiel. Und die Augen.
Minecraft ist keine Welt, in der ich lebe. Es ist eine Welt, in der ich scheitere. Und trotzdem will ich zurück. Vielleicht, weil es selten ist, so deutlich vor Augen geführt zu bekommen, wie viel man nicht weiß. Oder weil ich dieses Schaf noch immer melken will. Vielleicht auch einfach, weil ich dort wenigstens ein Ziel hatte: überleben. Und lernen. Mit Pixeln. Und mit mir selbst.
Fazit: Spielen Sie Minecraft. Oder lassen Sie es. Aber unterschätzen Sie es nicht.
Minecraft ist kein Spiel. Es ist eine Lebenssimulation mit Blockoptik und pädagogischer Härte. Wer hier bestehen will, braucht Geduld, Neugier und die Fähigkeit, sich in dunklen Löchern selbst zu lieben. Ich habe nichts gebaut, nichts erschaffen und niemanden beeindruckt.
Aber ich habe gelernt, dass Überforderung in Würde möglich ist. Und dass ein digitales Huhn manchmal mehr Verständnis zeigt als die besten Freunde.
Nächste Woche teste ich The Sims 4. Ich hoffe, es gibt da Wände.

Kommentare:
Kevin_2006 (Level 48, Redstone-Architekt)
13.07.2025, 18:05 Uhr
Also ganz ehrlich: Wer nach fünf Stunden noch keinen Ofen gebaut hat, sollte keine Artikel über Minecraft schreiben, sondern über Wattestäbchen. Der Ofen braucht ACHT Kopfsteinpflaster. ACHT. Nicht mal ein Kreis. Ich bin zwölf.
PS: Ich fand den Artikel trotzdem unterhaltsam. Auf eine traurige Art.
Heidi S., Göttingen
13.07.2025, 18:19 Uhr
Ich dachte, Minecraft wäre ein Kräutertee. Der Artikel hat mich aufgeweckt. Ich habe sofort das Spiel gekauft. Jetzt schreibe ich diesen Kommentar aus einem Kürbishelm heraus. Ich glaube, mein inneres Kind will nicht mehr zurück in die Realität. Bitte schicken Sie Hilfe. Oder wenigstens ein Bett aus Wolle.
Lars_Mechanik_1982
13.07.2025, 18:33 Uhr
Liebe Frau Kern,
ich spiele Minecraft mit meinen beiden Söhnen (6 und 9), und ja – ich musste beim Lesen lachen. Laut. Gleichzeitig tat es weh, wie Sie die Spielmechanik mit einem Schlagbohrer gegen die Wand fahren. Vielleicht ist das Spiel nicht das Problem. Vielleicht sind Sie einfach nicht bereit für ein Leben ohne Tutorial.
Kerstin D., Astropsychologin i.R.
13.07.2025, 18:56 Uhr
Ich träume seit Jahren in Blöcken. Erst dachte ich, es sei ein neurologisches Problem, aber jetzt begreife ich: Minecraft ist ein Zugangscode. Die Creeper repräsentieren unterdrückte Ängste. Die Werkbank ist ein Symbol für das vergessene Selbst.
Sie waren auf einer inneren Reise, Frau Kern. Danke, dass Sie uns mitgenommen haben.
„Bausimulator_Kalle“ (Rente, aber mit Ehre)
13.07.2025, 19:27 Uhr
Ich habe in Minecraft mein Haus nachgebaut. 240 Stunden Arbeit. Im echten Leben brauchte ich 37 Jahre. Wenn ich sterbe, will ich in meiner Minecraft-Küche beerdigt werden. Frau Kern, wenn Sie das nächste Mal scheitern: Ich habe ein Gästezimmer im Kreativmodus.
@DreamOfSheep (auf X gepostet)
13.07.2025, 19:12 Uhr
Wer in Minecraft stirbt, stirbt auch in der Realität – metaphorisch gesehen. Clara Kern hat uns das heute allen vor Augen geführt.
Ich werde nie wieder virtuell Brot essen, ohne an ihre Worte zu denken: „Hat sich der Stein beworben?“
Gero P., laut eigener Aussage „immer online“
13.07.2025, 19:45 Uhr
Ich weine gerade ein wenig, weil ich das Gefühl habe, dass jemand Minecraft wie ein Fremdwort behandelt hat. Sie sind in einem digitalen Wunderland gelandet und haben es wie einen IKEA-Katalog gelesen. Und trotzdem – Sie haben den Schafblick verstanden. Das ist mehr, als viele je erreichen werden.
Kommentar der Redaktion
13.07.2025, 20:01 Uhr
Hinweis: Die Redaktion weist darauf hin, dass Frau Kern nach Abgabe des Artikels zunächst mehrere Stunden schweigend auf eine Pixel-Zuckerrübe starrte. Wir prüfen aktuell, ob zukünftige Spieltests unter medizinischer Aufsicht stattfinden sollten.